Meinem besten Freund Frank Halder gewidmet,mit dem ich in der russischen Taiga unvergessliche Zeiten erlebt habe.
Prof. em. Dr. med. Victor Hoppe, geboren am 28.01.1939 als Kind deutschstaemmiger Eltern (Wolgadeutsche) im Ort Liebental / Spizewsker Bezirk in der Region Stawropol / Russland. Waehrend und nach dem II. Weltkrieg in der UdSSR Opfer politischer Repressionen in Kindheit und Jugend (vom 3. bis 17. Lebensjahr: 28.08.1941 - 17.01.1956). Zehnklassenschule, Saisonarbeiter (1947-1957). Student an der Omsker medizinischen Akademie; Fallschirmspringer, Schwerathlet (1957-1962), Promotion als Stomatologe, Assistenzarzt (1962-1979). Habilitation (1973). Gruender und ehemaliger Leiter des Lehrstuhls fuer Zahn-, Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie (1979-2004) und Mitbegruender und erster Dekan der Stomatologischen Fakultaet an der Fernoestlichen Staatlichen Medizinischen Universitaet in Chabarowsk am Amur (1979-1985). Mitbegruender u. Prediger der Evangelisch-Lutherischen Sankt-Johannes- Gemeinde in Chabarowsk (1993-2004). Praesident der Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche „Ural, Sibirien und Ferner Osten“ der Russischen Foederation (1995-2004). Jaeger, Sportfischer und Naturschuetzer (1962-2009). Seit 1998 Veroeffentlichung kleinerer literarischer Beitraege/Reportagen und Miszellen in verschiedenen deutschen und russischen Zeitschriften.
UEbersiedlung nach Deutschland im Jahr 2004. Beratende Funktion bei der Kommission zur Reform des Gesundheitswesens beim Bundeskanzleramt (2004). Mitbegruender und Lehrtaetigkeit an der privaten "Akademie fuer innovative dentale Implantologie" in der Dentalpraxis von Dr. A. Weis in Frankfurt am Main (Hoechst) ab 2007. Prediger fuer Auslaender- und Aussiedlerseelsorge der Foederation Evangelischer Kirchen in Mitteldeutschland (Thueringen/Sachsen-Anhalt) ab 2004.
Bibliographie: Naeheres zur Person in: Edmund Mater “Das Autorenlexikon der Russlanddeutschen“, Lichtzeichen Verlag GmbH, Lage, 2009, Band 2/G-K, S.280-284.
„Meine Zeit steht in deinen Haenden“(Ps. 31, 16).
Lutij
Odyssee einer Tigerwaise im Fernen Osten Russlands
Sehr langsam wachte er auf. Am Lichtschein, der durch das kleine Fenster der Jagdhuette stroemte, erkannte er: Der neue Tag beginnt. Vom eisernen Ofen in der Ecke kam keine warme Luft herueber. Durch den Schlitz des Ofentuerchens war kein Lichtstrahl auszumachen. Das Holz war zwar trocken, aber das Feuer erloschen. Das Zugloch im Ofen war wohl zu weit geschlossen gewesen. In der Jagdhuette, frueh am Morgen, ist das Schueren des Ofens nicht die Sorge dessen, der als erster aufwacht, sondern der als erster aufsteht. Die Freunde in den Betten schnarchen nicht mehr. Noch im Halbschlaf warten sie alle darauf, wer als erster aufsteht, fuer Waerme sorgt und das Fruehstueck vorbereitet... Es ist also bequemer, in der Frueh nicht der erste zu sein. Von der Tuer her blaest ein kalter Luftzug. In der eiskalten Huette, aus der Waerme seines Nachtlagers, sollte man nur mit schnellem Sprung aufstehen. Ganz anders liefe es, wenn das Feuer bis zum Morgen durchgebrannt hat. Dann wuerde man das angewaermte Bett gegen die noch ofenwarme Huette eintauschen.
So aber in Windeseile die noch vom Vorabend ueber dem Ofen haengende Waesche abnehmen und ueberziehen, auch wenn sie jetzt eiskalt ist. Am Koerper erwaermt sie sich schnell. Die Socken anziehen, in die Fusswaermer schluepfen und ab in die Filzstiefel! Auf den Kopf die Strickmuetze und ran an den Ofen! Birkenrinde, Rindenstueckchen von der Laerche und getrocknete Spaene zusammensuchen. Feuer machen: OEffnen der Ofenklappe und dann der Ofentuer. Nicht umgekehrt. Sonst gelangt Rauch in die Huette und damit in Augen, Nase und Mund. Von den Schlafpritschen ertoenen laut donnernd "froehliche" Worte zum neuen, vielleicht auch erfolgreichen Tag. Auf die gemeinsame Jagd gehen Freunde am Wochenende oder an den Feiertagen. Wer in der Frueh fuer alle das Feuer gut schuert, der hoert dennoch kein Lob. Das ist selbstverstaendlich: ein Mann der Taiga muss wissen, wie und wann er Feuer machen muss. Auf dem Ofen steht schon die dampfende Pfanne mit Speck, Zwiebeln und Eiern; der siedende Teekessel und das Teekaennchen mit dem frischen Teeaufguss. Mit dem Fruehstueck sind alle zufrieden. Was uebriggeblieben ist, wird in den Rucksaecken mitgenommen. Niemand trinkt Alkohol - das war gestern. Denn jeder weiss: Wer noch am Tage der Jagd zu tief ins Glas schaut, wird nur schweren Schrittes marschieren!
Nochmals ist die Ausruestung zu pruefen und nochmals wird die Marschroute durchgegangen, wie gestern gemeinsam festgelegt. In der Nacht fiel Neuschnee und die Zweige sind mit Reif bedeckt. Das wird auch im Jagdgebiet bei Tagesanbruch so sein. Ein leichter Gegenwind blaest aus Richtung des Jagdreviers. Das Rauschen der Zweige ist kaum zu hoeren. Unter dem Gewicht der Jaeger knirscht der Schnee bei jedem Schritt. Weithin ist dies hoerbar, denn am Morgen herrscht sonst die totale Stille im Wald. In dieser Herrgottsfruehe ist die Jagd nur von Erfolg gekroent, wenn du dem Wild dort ganz nahe kommst, wo es ruhend die Nacht verbracht hat. Aber die Tiere waehlen ihre Nachtlager mit Bedacht, und zwar so, dass ihre Witterung, ihre Sicht und ihr Hoersinn am Schlafplatz nicht beeintraechtigt werden!. Der Jagderfolg ist also keinesfalls garantiert. Man muss sich auf der Jagd stets mit aeusserster Vorsicht bewegen! Auf schmalen Pfaden pirschst Du dich vorsichtig an das Wild heran...
Langsam erwacht die Natur. Haselhuehner folgen dem imitierenden Pfeifton des Jaegers, den dieser einem Lockruf gleich ausstoesst, und fliegen ihm dabei fast an den Kopf. Ein Zeichen, dass der Fruehling nicht mehr weit ist. Die Sonne sieht man noch nicht, aber die Gipfel der Berge sind schon erleuchtet. Haselhuehner sollen uns heute aber nicht interessieren…In der Jagdlizenz sind Hirsche eingetragen, aber schon naechste Woche beginnt ihre Schonzeit. Wuerde man die kleinen Voegel schiessen, wuerden die grossen Tiere aufgescheucht.
An diesem Morgen duerfte das Grosswild zur Futterstelle kommen. Am Ufer trifft man auf Faehrten vom sibirischen Nerz, von Eichhoernchen, Zobel und Marder, aber keine Spur von Hirschen. Nur ein Wildschwein hat den Schnee einem Schneepflug gleich umgewaelzt. Es kam aus dem Tal rechts oben und ist quer zur Marschroute der Jaeger nach oben links gelaufen. Man koennte es linker Hand umgehen, um zum Schuss zu kommen. Doch da sind auch noch Spuren einer ganzen Wildschweinrotte, die anscheinend in dieselbe Richtung gelaufen ist. Schade, aber heute interessiert selbst solche Beute den Jaeger nicht, er hat noch Groesseres im Visier! Vor ihm liegen jedoch noch zwei Gebirgsuebergaenge, und am Nachmittag muss er bereits zur Huette zurueck!
Bisher war der Tag wenig erfolgreich. Es ist schon 12 Uhr, aber immer noch keine Spur von Hirschen in Sicht... Die Sonne waermt angenehm und sticht ins Gesicht. Doch wenn man nur einen Moment anhaelt, spuert man den Frost sofort! Fuer die Rast musste ein Platz in der Sonne und im Windschatten gefunden werden. Beim Abstieg vom ersten Pass hat der Jaeger einen alten Baumstumpf mit Bruchholz daneben gefunden. Er hat Tee im Kochgeschirr gekocht und eine kleine Zwischenmahlzeit eingenommen. Eine Viertelstunde Ruhe hat er sich gegoennt, um dann den naechsten Berg zu erstuermen. Unerwartet sind wieder Spuren von Wildschweinen zu sehen, die zu seiner eigenen Spur vom Morgen fuehren. Gescheit ist es, dem eingetretenen Pfad zu folgen, so laeuft es sich viel leichter. Aber Spuren von Edelhirschen sind immer noch nicht zu sehen. Heute muss man sich wohl mit dem ausbleibenden Jagdglueck abfinden...
Aber ploetzlich und voellig unerwartet bemerkt er, auf seinem eigenen Jaegersteig entlang der Wildschweinspuren, im Schnee die Faehrte einer erwachsenen Tigerin mit zwei kleinen Jungtieren. Jetzt hat er verstanden, warum die Wildschweine auf seinem morgenlichen Fusspfad abgebogen waren.
Ahnungslos hatte der Jaeger das Jagdrevier einer Tigerin betreten. Und dazu noch eines Muttertieres mit zwei Jungen! Es ist, als ob ihm das Herz im klirrenden Frost der sibirischen Taiga stehenbliebe... Er wagt keinen Schritt mehr und laesst seinen Blick den Pfad entlang schweifen. Steigt dort nicht dampfender Atem vom Pfad empor? Balgen sich dort nicht zwei kleine gestreifte Wollknaeule im Schnee? Dann muesste ganz dicht daneben doch auch die Tigerin sein! Seine Ahnung taeuscht ihn nicht: Da ist sie, tatsaechlich: Hinter einer Schneeverwehung funkeln die Augen einer Tigerin hervor. Bei ihrem Anblick ist ihm, als wenn eine eiskalte Hand aus Stahl ihn im Genick packte. Die Raubkatze beobachtet den Jaeger sicher schon laenger, ihr Blick klebt regelrecht an ihm, als ob es die Kleinen nicht gibt. Ihnen schenkt sie jetzt gar keine Beachtung mehr. Dem Jaeger faellt es schwer zu atmen. Das Halstuch hindert ihn. Es war ein Geschenk von seiner Mutter, das Sie selbst gestrickt hatte. Ein blaues einfaches Tuch. Und sie hatte noch die Worte "Gott schuetzte dich" hineingestrickt! Vor der Abfahrt zur Jagd hatte sie ihm das Tuch selbst um den Hals gebunden. Damit war seine Mutter immer bei ihm. Dennoch, in seiner alles durchstroemenden Angst spuert er sich dem Nervenzusammenbruch nahe…Die Beine versagen ihren Dienst und wollen ihn kaum mehr tragen. Die Tigerin schaut zu ihm herueber, starr und ohne Unterlass. Ein Warnruf in Richtung der weit entfernten Jagdgenossen wuerde nichts helfen…und auch seine Mutter ist weit. Ihr Halstuch allein wird seinen Zweck nicht erreichen. "Vater unser...geheiligt werde Dein Name...unser taegliches Brot gib uns heute und...Herr, erloese mich hier und jetzt von dieser Tigerin !!" Dieses Stossgebet kommt aus seinem tiefsten Innern. Jetzt nur ruhig bleiben, ganz ruhig. Was aber tun? Die Panik nimmt etwas ab. Sein Zustand wird besser. Doch dann beginnt der Kampf mit seiner Angst um Leib und Leben. Sofort das Gewehr in Richtung der Raubkatze! Das Gewehr entsichern. Gut, dass es geladen ist. Die Tigermutter straeubt noch nicht die Nackenhaare und auch der Kopf ist noch nicht angehoben: noch duldet sie den Fremden, noch sieht sie ihn nur an. Anscheinend ist sie sich ihrer Sache sicher und zeigt keine Eile.
Jetzt sollte man sich schleunigst eine bequemere Schussposition ueberlegen. Vor allem sollte man die Wahrscheinlichkeit eines Fehlschusses vermindern. Schnell das Gewehr auf die Raubkatze richten. Entsichern. Wenigstens dies geht zu Gunsten des Jaegers, dass das Magazin voll ist. Das Tier erhebt sich immer noch nicht. Noch toleriert die Tigerin den Eindringling. Sie hebt ihren Kopf nicht an, um ihn gaenzlich in den Blick zu bekommen. Sie fuehlt sich also immer noch sicher und hat keine Eile. Zeitgewinn fuer den Jaeger, den dieser zum Denken nutzen muss. Ein Fehlschuss muss ausgeschlossen werden. Die Ski abnehmen, den Jagddolch loesen. Zum Schuss, wenn ueberhaupt, kommt man im Angesicht eines Sibirischen Tigers nur einmal, und dieser eine Schuss muss toedlich sein! Zuerst die Ski mit der Spitze in den Schnee stecken. Das Gewehr auf das Skiende auflegen und den Hals der Tigerin ins Visier nehmen. Vom Schaedel koennte es Querschlaeger geben. Die Entfernung zu ihm kann Sie in 2-3 Spruengen zuruecklegen…
In diesem Augenblick bemerkt er auf dem Fusspfad das Blut im weissen Schnee. Okay, das war also ihre Fruehstuecksmahlzeit. Und mit den Beuteresten beschaeftigen sich jetzt die beiden Tigerjungen.
Der Wind weht zu ihr hinueber, sie kann die Witterung des Schiesspulvers und des Jaegers aufnehmen. Diese abwartende Haltung der Tigerin koennte so noch lange Zeit andauern. Zum sofortigen Schiessen kann er sich nicht entscheiden. So ein Tier ohne Not umzubringen ist verbrecherisch, besonders mit zwei Jungen. Als das Bruellen der Raubkatze in der Taiga erdroehnt, ist ihm, als verschiebe sich die Muetze auf seinem Kopf … Doch da verlaesst die Tigerin mit einem einzigen Sprung den Fusspfad und verschwindet, gefolgt von ihren beiden Jungen, seitwaerts in der Taiga. Der Jaeger betet zu Gott: Die Tigerfamilie ist nicht mehr zu sehen. Er “wartet“ 10-15 Minuten, und ohne sich noch einmal umzusehen, marschiert er dann schnellen Schrittes und mit klappernden Zaehnen die letzten 3 km zur Jagdhuette. Alle anderen waren schon vom Jagdausflug zurueckgekehrt und hatten auf ihn gewartet.
Auf seine vor Aufregung stockende Erzaehlung der Geschehnisse reagierte die kleine Jagdgesellschaft, der er sich in diesem Revier das erste Mal angeschlossen hatte, jedoch ueberraschend mit lautem Lachen. Es handelte sich naemlich um eine alte und schon zahnlose Tigerin, den ortskundigen Jagdgenossen seit vielen Jahren gut bekannt. Schon die letzten drei Jahre war sie den Jaegern nachgelaufen und hatte das Wild gefressen, das diese auf ihren Touren, gewollt oder ungewollt, zurueckliessen. Niemand stoerte die Tigerin beim Fressen der mit Schnee bedeckten und von Kugeln durchsiebten Beute…Die Jaeger waren nur ueberrascht, als sie am naechsten Tag den Vorfall untersuchten: Die Alte hatte tatsaechlich zwei Jungtiere und hatte zum Fruehstueck einen Frischling gerissen!
Die erste Zeit war er auf seine Jagdkumpane nicht gut zu sprechen, denn Sie hatten ihm vor der Jagd nichts ueber die alte Tigerin erzaehlt. Zwar wollten sie, wie sie betonten, ihn frueh am Morgen noch warnen, aber da war er ja, vom Jagdfieber gepackt, schon aufgebrochen. Des Jaegers Unterhosen, gezeichnet vom ersten Schreck einer solch seltenen und aeusserst gefaehrlichen Begegnung, sollten aber bald wieder trocknen, und nach diesem aufregenden Tag hatte er sich unter den Gruenroecken und Tigerfaengern Ehre, Anerkennung und neue Freunde erworben.
Die bisher geschilderte Jagdnovelle, die verschiedene reale Erlebnisse in der ussurischen Taiga im Fernen Osten Russlands literarisch verdichtet, stammt aus der Feder eines Erzaehlers, der damals im Hauptberuf eigentlich Hochschulprofessor und Facharzt fuer Mund- und Kiefernchirurgie in der russischen Stadt Chabarowsk am Amur war. Die Kombination aus beruflicher und privater Leidenschaft, aus Zahnheilkunde und Jagdfieber, sollen den Fortgang unserer Geschichte nicht unerheblich beeinflussen, wie der geneigte Leser im Folgenden erfahren soll.
Unsere Tigerfamilie hatte im bisherigen Jagdrevier nur mit viel Glueck ueberlebt. Dann aber, im Herbst 1995, wechselte die Tigerin in ein benachbartes Revier, in dem die Jaegerschaft des Jagdproduktionsabschnittes "N" zustaendig war. Dort kannte man diese Tigerfamilie nicht. Als "Jagd-Konkurrenten" hat man die Tigerin und eines der beiden Jungtiere kurzerhand und illegal erschossen und in einem der traditionellen "Jaegerfeuer" verbrannt. Aber, wie ein sibirisches Sprichwort sagt: „Die Taiga ist gross und der Baer ist ihr Hausherr“. Den Jaegern bleibt kein Geheimnis verborgen. Alles, was im Fernen Osten Russlands in der Taiga passiert, kommt einst an den Tag…
Nach ein paar Monaten habe ich das verwaiste kleine Tigerjunge wiedergesehen. Entkraeftet lief es auf dem Forstweg. Das 8 bis 9 Monate alte Tigerjunge hatten Langholzwagenfahrer selbststaendig gefangen. Durch eine Ungeschicktheit brachen sie dem Jungtier dabei aber den oberen rechten Eckzahn und verrenkten ihm den unteren rechten Eckzahn. Der untere Kieferknochen wurde ihm ebenfalls gebrochen. Dazu kamen Wunden an Kopf und Koerper.
Schon am selben Tag kam der kleine Tiger in das zoologische Rehabilitationszentrum "Utjos“, auf Deutsch „Felsen“, das fern der Zivilisation in der Taiga erbaut worden war. Der Tierarzt, der das Tigerjunge nach der Einlieferung ins Zentrum untersuchte, traf allerdings die falsche Entscheidung. Er ignorierte meine Empfehlung fuer eine fachmaennische Behandlung: Man beliess den verrenkten Eckzahn in der Mundhoehle, ohne Reimplantations- und Immobilisierungsregeln zu beruecksichtigen. Eine Wurzelbehandlung des oberen rechten Eckzahns und die notfallchirurgische Behandlung der Wunden wurden nicht durchgefuehrt. So entwickelte sich bei dem Tigerjungen, das man wegen seines verbissenen Widerstands waehrend der Fangaktion "Lutij", den Wuetenden, taufte, im Weiteren eine Knochenmarksentzuendung der Zahnhoehle des unteren rechten Eckzahns und eine Periodontitis der Wurzel des oberen rechten Eckzahns. Der Kleine konnte das Futter nicht im Mund festhalten. Der verrenkte untere Eckzahn fiel aus der Zahnhoehle heraus. Im weiteren entwickelte sich eine chronische Knochenmarksentzuendung des unteren rechten Kiefers.
Am 1. Mai 1999 wurde das Tier mittels einer Ketalar-Injektion behandelt. Eine Infusionstherapie wurde durchgefuehrt. Im Roentgenogramm konnte man sehen, dass die Sequester im Vorderteil des unteren Kiefers ueberall in den Knochen lokalisiert waren. Der pathologische Bruch des unteren Kiefers rechts war im Bereich des Moeglichen. Zwei Chirurgen-Stomatologen fuehrten die Sequestrotomie am unteren Kiefer durch. Gleichzeitig nahmen zwei praktizierende Zahnaerzte eine Wurzelfuellung des oberen rechten Eckzahns mit Endomethason vor, wobei sie zunaechst eine provisorische Fuellung machten. Es gelang, den Koerper des Unterkieferknochens mittels Sequestrotomie sowie den Alveolarknochen zu erhalten. Zu demselben Zeitpunkt wurden Antibiotika und Hormonpraeparate intravenoes eingefuehrt. Nach Operationsabschluss kam es zu einem kurzen Atemstillstand, verursacht durch eine UEberdosierung mit Ketalar. Raubkatzen bekommen so genannte Diaposon-Narkosemittel gespritzt, die fuer kurze Zeitspannen bemessen sind. Aber die Dosierung muss exakt berechnet sein. Eine eventuell notwendige Folgedosis darf erst bei nachlassender Wirkung der vorausgegangenen Dosis injiziert werden. Noch waehrend der kuenstlichen Beatmung wurden Ketalar-Antidoten verabreicht. Die spontane Atmung wurde dadurch wiederhergestellt. Um ein kuenstliches Transdentalimplantat herstellen zu koennen, wurden Abdruecke des oberen und unteren Kiefers fuer den oberen rechten Eckzahn gemacht.
Zwei Monate nach dieser Operation stellte man bei der Untersuchung des Tigers ein starkes Eitersekret in der rechten Unterkiefergegend fest. Der Tiger frass nur mit der linken Seite der Zahnreihen. Dem Futter wurden osteotropische Antibiotika und zum stimulierenden Wachstum des Kieferknochens kontinuierlich Medikamente beigemischt. Am 23. Mai 2000 beschloss die Leitung des Reha-Zentrums, meinem strengen Heil- und Behandlungsplan mit Hilfe eines internationalen AErzteteams zu folgen.
Am 25. Mai 2000 wurde das Tier mit Ketalar, das in Teildosen verabreicht wurde, behandelt. Als das Tier von mir untersucht wurde, ergab sich: Die Fisteln in Mundhoehle und Unterkiefergegend waren vollstaendig geheilt. Es gab keinen Sekretfluss mehr aus der oberen rechten Wurzel. Alle beteiligten Experten des AErzteteams hatten ihren Teil zum Erfolg beigetragen. Laut des Roentgenbildes wurde die Struktur vom Knochengewebe des unteren Kiefers rechts sowie die Erweiterung des Periodontes an der Spitze des oberen Eckzahns rechts festgestellt. Im Verlauf des Eingriffs wurde eine endodontische Bearbeitung des Wurzelkanals am oberen Eckzahn rechts durchgefuehrt. In den oberen Teil des Kanals wurde Endomethason eingefuehrt. Auf dem Wurzelstumpf wurde ein Transdental-Implantat eines kuenstlichen mit Gold anodosierten Eckzahns befestigt. In der fuer die Operation verbleibenden Zeitspanne wurde verfilztes Fell entfernt. Des Weiteren wurde eine Krallenpedikuere durchgefuehrt und Zahnbelag und Zahnstein entfernt.
Nach dem Aufwachen bekundete der Tiger eine stark ausgepraegte Neugierde dem kuenstlichen Zahn gegenueber und leckte diesen staendig mit der Zunge. Nach 15 Minuten ging das Tier bereits ins Freigehege. Drei Tage spaeter ist die Diaet "vergessen". Der Tiger war wieder in der Lage, mit Hilfe seines oberen rechten Eckzahnimplantats Fleisch zu zerreissen. Drei Monate spaeter ist das "Gold" am kuenstlichen Eckzahn weggerieben. Der Zahn sieht wie poliert aus und glaenzt. Das Tier hat zugenommen, sieht entspannt aus und benutzt den oberen rechten Eckzahn aktiv.
In naher Zukunft steht ihm die Implantierung des unteren rechten Eckzahns bevor. Zu diesem Zweck wird ein zerlegbares zylindrisches Implantat aus Chrom-Cobalt in der Form eines natuerlichen unteren rechten Eckzahns eines ebenfalls fuenfjaehrigen Tigers hergestellt. In der ersten Etappe wurde im Maerz 2008 das Implantat in den Knochen des unteren Kiefers eingebracht. Die medizinische Leitung hatten dabei meine ehemaligen Studenten im Auftrag der Firma "Den-Tal-is“. In 6-10 Monaten wird in einem zweiten Behandlungsschritt der intraorale Teil des kuenstlichen Zahns befestigt.
Bis zum heutigen Tag gibt es kein weiteres Beispiel einer aehnlichen Herangehensweise im Rahmen einer zahnchirurgischen Behandlung einer wilden Grosskatze. Die Untersuchung im August 2008 zeigte, dass das Tier gesund ist und 153 kg zugenommen hat. Es benutzt beim Fressen die kuenstlichen Zaehne. Nach Aussagen der Mitarbeiter des zoologischen Reha-Zentrums kommuniziert das in einem umzaeunten Areal von 20 ha lebende Tier durch Bruellen mit anderen in der Taiga lebenden Amurtigern. Die frei lebenden Artgenossen sind allerdings noch gefaehrlich fuer ihn. Der beschriebene Fall beweist, dass die fachmaennische zahnaerztliche bzw. zahnchirurgische Behandlung fuer Wildtiere grundsaetzlich lebensrettend sein kann und der erste Schritt ist auf dem Weg hin zu einer moeglichen Wiedereingliederung in die Wildnis der Taiga.
Die Wildnis des russischen Fernen Ostens – ein riesiges Territorium oestlich des Baikalsees gelegen, im Sueden an China und Nordkorea angrenzend, im Osten bis Japan und den Pazifik reichend und im Hohen Norden fast Alaska beruehrend, in der europaeischen geographischen Literatur haeufig auch als „Ostsibirien“ bezeichnet – diese einmalige Wildnis ist durch die verstaerkte menschliche Taetigkeit, durch unkontrollierte Jagd, staendige Waldbraende und raeuberische Nutzung der Naturschaetze massiv bedroht. Heute kann man die wenigen verbleibenden Baeren und Tiger in der ussurischen Taiga und der Amurregion, an der Grenze zu Nordostchina und Nordkorea, schon an wenigen Haenden abzaehlen. Vom fernoestlichen Amurleoparden, der groessten Leoparden-Unterart, haben nur noch wenige Exemplare den Raubbau an der Natur ueberlebt.
Naturfreunde, Naturschuetzer und Umweltaktivisten haben sich, getrieben von grosser Sorge um den Erhalt der Artenvielfalt und des oekologischen Gleichgewichts in dieser einzigartigen Region, zusammengeschlossen, um "unseren Bruedern und Schwestern der Taiga" effiziente Hilfe zu leisten. Das in der Erzaehlung beschriebene Tier-Rehabilitationszentrum (THZ) "Utjos-Felsen“ wurde 1995 neben der Siedlung "Bitschevaja" (Kreis Laso, Region Chabarowsk) von einem bemerkenswerten Menschen, einem der letzten Tigerkenner aus traditionsreicher Familie, Wladimir Jemeljanowitsch Kruglow, gegruendet und fast zehn Jahre geleitet. Leider ist er 2004 von uns gegangen. Seine Soehne setzen nach dem Studium an der Irkutsker Universitaet seine Arbeit fort.
Auf Initiative der „Internationalen Stiftung zum Schutz der Wildtiere“ (WWF) hat deren ehrenamtlicher Praesident, Prinz Philipp, Herzog von Edinburgh, anlaesslich seines Besuches in Russland im Jahr 1995, das WWF-Zentrum zum Schutz des Amurtigers gegruendet. Die Arbeit dieses Zentrums wird auch von der Regierung der Russischen Foederation unterstuetzt. Im August 2008 besuchte W. W. Putin das zwischen Chabarowsk und Wladiwostok gelegene Ussuri-Naturschutzgebiet.
Im Tierrehabilitationszentrum wurden bisher 3 Tiger, 20 Baeren, 5 Fuechse, 15 Waschbaeren sowie 20 Voegel gepflegt und behandelt und spaeter in die Taiga freigelassen. Z.Z. befinden sich 1 Tiger, 2 Edelhirsche, 1 Waschbaer, 2 Luchse, 1 Vogel, 3 Baeren, 1 Fuchs und 2 Rehe im THZ in Behandlung. Ursache fuer die Einlieferung von Wildtieren ins THZ sind Verstoesse gegen die Jagdvorschriften und Naturkatastrophen wie z.B. Waldbraende, UEberschwemmungen, ergiebige Schneefaelle sowie Hartschnee im Fruehjahr.
Die meisten ins THZ eingelieferten Tiere litten an Untergewicht und Vergiftungen durch Aufnahme von Pflanzenschutzmitteln in der Nahrung oder hatten Schusswunden. Die Wildtiere sind auch durch fehlerhafte und nichtadaequate Behandlungsmethoden von unerfahrenen Veterinaerstationen und Jagdgenossenschaften bedroht. Stomatologen, Tieraerzte, Mitarbeiter des THZ und Naturschuetzer des WWF berichten von Tieren mit traumatisierenden Verrenkungen, mit isolierten Bruechen und Zahnbruch, mit Bruch des Alveolarfortsatzes oder mit Schusswunden im Gesichtsschaedel. Allein im Zeitraum von 1995 bis 2004 wurden 2 Edelhirschkaelber, 3 Rehe, 1 Ferkel und 1 Tigerjunges mit solchen Verletzungen ins Zentrum eingeliefert. Die Traumata hingen oft auch mit fehlerhafter Fangtechnik von bedrohten oder verwaisten Jungtieren zusammen.
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